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Lancia Stratos

Editorial  

Eines Tages, lange nach der Steinzeit, begann man wieder Keile zu lieben, ohne Höcker, ohne Stufe, ohne Griff für die Faust. Was Autos betrifft gern mit Scherentüren, wenn denn schon Türen sein mussten. Bertone war das radikalste Studio und Marcello Gandini der führende Interpret des Keils. Die Keilzeit würde für gut zehn Jahre die Autowelt verrückt machen, der Beginn lässt sich am besten mit dem Showcar Carabo von Bertone markieren: 1968. Fantastisch irreal. Und irgendwie so Fantasy-mässig perfekt, dass man die Irrlichter wieder einfangen und im Grunde genommen schon wieder Schluss hätte machen können. Stattdessen kamen noch viele wunderbare Keile, und wohlhabende Menschen machten sich zu Idioten, wenn sie wie Reptilien in enge Schlünde krochen, um ein neues Habitat zu bewohnen, das am bislang entferntesten von Gottlieb Daimlers Idee vom Automobil lag.

Einer der frühen Urkeile bekam den vorläufigen Namen Stratos und wurde als Showcar von Bertone 1970 am Turi–ner Salon gezeigt. Die Besucher waren ratlos, amüsiert und freudig erregt. Der neue Keil war an seiner besten Stelle 86 Zentimeter hoch, dagegen war der Carabo noch ein Bus. Theoretisch konnte man sich immerhin hineinlegen, falls es die Einheit von Tür, Dach und Frontscheibe erlaubte. Durch Hochklappen der riesigen Scheibe wurde das Cockpit freigelegt. Jede Art von Armaturenbrett wäre hinderlich gewesen. Die wenigen Schalter und Hebel waren in jenen Teil eingelassen, den man anderswo Türschweller nennen würde, und im Steher davor, also noch immer seitlich, warnte eine Mattscheibe vor einer digitalen Zukunft, die noch nicht begonnen hatte.

Bertone machte grundsätzlich keine potemkinschen -Karossen, sondern liess jedes Schaustück bis zur Bewegungsfähigkeit ausbauen: Es musste funktionieren. Die dafür nötige Mechanik wurde der Lancia Fulvia entnommen, und damit war eben gleich Lancia mit im Boot. Auch die kleine Maschine der Fulvia liess sich unterbringen, allerdings als Mittelmotor. Damit war auch eine gewisse Ernsthaftigkeit gegeben, und aus der puren Schönheit des Keils wurde ein funktionierendes Sportgerät. In den diversen Schnittzeichnungen von Bertone sass (eigent-lich: lag) als Referenzfigur immer ein Sturzhelmträger drin, nie ein legerer Zivilist.

Lancia und Bertone fanden schon Anfang 1971 zusammen, um einen echten Menschen hineinzusetzen, zum Beispiel einen wie Sandro Munari aus dem Rallye-Team von Lancia. Dessen Chef war Cesare Fiorio, beide sollten sich zu wunderbaren Paradiesvögeln entwickeln.

Gerne gestehen wir unsere zärtliche Liebe zu diesen Zeitläufen, also 1970 und weiter, besonders in Verbindung mit dem italienischen Wesen und sagenhafter Design- und Handwerkskunst im goldenen Dreieck Turin-Mailand-Bologna. Alles war offen für Überraschungen und dafür, wie sich die jungen Blüten entfalten würden. Was die italienische Herrscherfamilie Agnelli betraf, so hatte Fiat 1969 die Firma Lancia geschluckt, samt ihres Jahrhundert-Zaubers und der erstaunlichen Schulden, die sich in Lire sowieso nicht mehr ausdrücken liessen, insofern waren sie auch nicht so beun-ruhigend.

Niemand, absolut niemand konnte sich vorstellen, mit welcher Coolness der Grosse den Kleinen eines Tages verhungern lassen würde, bis Lancia nur noch eine Souvenir-Anstecknadel sein würde, die man an Jubiläumstagen der Konzerngruppe tragen würde.

Vorerst allerdings zeigte Fiat Kraft, um Lancia nicht nur existieren, sondern auch glänzen zu lassen. Im Fortschreiben der Markengeschichte schien ja keine Steigerung möglich zu sein, seit dem Tag, an dem Brigitte Bardot aus einer Aurelia B24 geschlüpft war. Also liess man nun die sportliche Schiene zu, die sich mit der Fulvia HF ergeben hatte. Hier kamen Zeit und Ort zusammen, Bertone und der Keil und die ganze Stratos-Fantasie, alles in der Hochblüte der italienischen Klassik, was Designer, Motorenbauer und freischwebende Genies betraf.

Der Stratos wurde des Show-Klimbims entkleidet und auf das Vorstellungsvermögen von Normalmenschen reduziert, immer aber mit Fokus auf Rallyes und Rennen. Der Wagen wurde nicht praktischer, damit auch höher, kürzer, klobiger, die Harmonie des Ur-Keils wurde durch aufgepfropfte Kotflügel gestört.

Die Übersetzung von Schönheit auf Funktionalität: gedrungen, kraftvoll, bösartig vielleicht, mehr bären- als katzenhaft. Bären haben einen kurzen Radstand. Und entscheidend war nun natürlich der 2,4-Liter-Sechszylinder von Ferrari, den der alte Herr persönlich herausrückte, keine leichte Sache.

Wir bekamen auch einen ersten wahrhaftigen Star im Sinne von Kult und Kino. Sandro Munari, der sich den Stratos wie einen Handschuh anzog und mit ihm eins wurde, war auch als Schauspieler wertvoll. Ihm folgten die Helfer, Ärzte, Händchenhalterinnen und Sandwichträger, und Sandro inszenierte sich als trauriger, alleweil ein bisserl umdüsterter Held, wenn er nicht gerade beschloss, hysterisch wie eine gefleckte Stute vor dem Grand Prix d’Amérique zu sein. Was er überhaupt nicht leiden konnte, war, wenn der schwedische Flegel Waldegård, der im selben Team herumfleuchte, schneller fuhr als Zampi selbst. So schlau war Cesare Fiorio von Anfang an gewesen: Deinen Italienern musst du einen Finnen oder Schweden beimischen, um den Kompass zu norden. Und ein Engländer ist auch nie falsch, um die Technik auf den Punkt zu bringen. Mike Parkes hiess dieser wunderbare Mann.

Für Lancia passte im Herbst 1974 alles. Nach der Ölkrise gab es wieder Treibstoff und Hochgefühl, die Homologationen waren endlich durch, das Auto war ausgereift und Sandro Munari auf der Höhe seiner Kunst. Er siegte in San Remo und bei der Kanada-Rallye. Die Details werden vielleicht nicht mehr jedermann erinnerlich sein: Sandro war an einem Löffelchen Mayonnaise am kalten Huhn bei der Zwangsrast in Bancroft nördlich des Ontariosees erkrankt und tauchte fortan mit immer matter werdenden Gesten zwar noch an jedem Kontrollpunkt auf, aber schon mit gelber Hautfarbe, die seinem Asketengesicht eigentlich erst den letzten Pfiff gab. Seid -unbesorgt: Er gewann die Rallye. 

Immerhin verdanken wir jenem Mayon-naise-Häppchen die Erfindung des Rallye-Doktors: Munari forderte ab dann die Anwesenheit eines Mediziners bei jedem Start, was uns die unvergesslichen Auftritte von Dottore Bartoletti, samt Gemahlin im Pelzmantel, bescherte, noch tief in die 1980er-Jahre hinein, immer glanzvoller. Wenn wir dabei an die italienische Oper erinnert werden, fällt uns der «Liebestrank» von Donizetti ein – die Wirrungen von Liebe, Schmerz und Medizin.

Jedenfalls gibt es seither keine Rallye mehr, bei der nicht jedes ordentliche Profiteam einen Arzt dabei hätte, von Physiotherapeuten und Mentaltrainern gar nicht zu reden. Sandro Munari erfand das alles vor erst fünfzig Jahren, eine ganze Branche dankt es ihm.

So viel Zeit muss sein, wenn wir schon von Marksteinen der Fahrerbetreuung reden: Citroën Teamchef René Cotton hatte in den 1960er-Jahren fahrbare Duschen erfunden, die am Ende von schweren Etappen (das konnten damals zehn oder zwölf Stunden sein) auf die Fahrer warteten. Unvergleichlich: Vorderradantrieb, Höhenverstellung – und eine Kabine zum Brausen!

Der Stratos, um jetzt wieder in die Spur zu kommen, war natürlich ein fantastisches Rallyetier, ideal für korsische Haarnadeln bis zu den Race Tracks der Tour de France – Cesare Fiorio in seiner Tapferkeit und im Licht seiner -hohen Berufung, die man einfach spürt oder nicht spürt, und Cesare spürte sie schon früh, kurz gesagt: Lancia wollte mit dem Stratos 1975 die Safari-Rallye gewinnen, als Statement für die Ewigkeit.

Man konnte sehr wohl das Fahrwerk höhersetzen, und Mike Parkes hatte eine Art Unterbodenpanzer ausgeheckt, der alle Geröllpisten Afrikas überstehen würde. Man kriegt das heute ja gar nicht mehr auf die Reihe: Die Rallye ging über 6.000 km, davon nur der kleinste Teil -Asphalt, sonst alles Piste, Geröll über Felsbrocken bis Schlamm.

Lancia hatte seit Fulvia-Tagen bereits ein kleines Netzwerk in Kenia, die italienische Community läuft in exotischer Diaspora gern zu dicker Verwandtschaft auf. Ausserdem kam man ins Geschäft mit der Preston-Familie aus altem Ostafrika-Adel. Dort hatte man alles, was man brauchte: Werkstätten fürs Training («recce»), Stützpunkte und Helikopter und einen Einsatzplan für hunderte – ehrlich: HUNDERTE – «mud cars», also private Helfer mit ihren Autos, die an tief verschlammten Passagen oder an Flussüberquerungen bereitstehen würden, um die stolze Alitalia-Flotte ins Trockene zu bringen. Alitalia war der neue Partner von Lancia, und von allen historischen Kriegsbemalungen ist Alitalia die wertvollste geblieben. Sie sah auch gut aus, muss man ganz ehrlich sagen, und wenn der ganze Tross von Lancia am Flughafen Rom in den Bauch einer Alitalia 747 gehievt wurde, waren gern auch ein paar Fotografen dabei.

Kurz gesagt: Stratos und die Safari 1975, das war keine Kleinigkeit.

Die Fahrer waren Sandro Munari und Björn Waldegård, die einander auf elegante Weise nicht leiden konnten, durchaus zum Vergnügen von Cesare Fiorio, der sein persönliches Nord-Süd-Spannungsfeld schon seit einem Jahrzehnt mit Witz und Tücke bearbeitet hatte. Ein dritter Stratos stand dem jungen Vic Preston zur Verfügung, das war Teil des Deals mit dem Preston-Clan, eine smarte Sache. Das Auto war bereits seit sechs Monaten in Süd-afrika, wurde von Munari getestet und Mike Parkes hatte das Auto für den bevorstehenden Einsatz präpariert. Alles noch in den Alitalia-Farben. Kurz vor der Rallye wurde das Auto dann weiss lackiert und als Muletto eingesetzt. Allemal wollen wir uns die Fahrgestellnummer des Autos notieren, das Sie auch auf den Fotos in dieser Geschichte sehen: 1637.

Vielleicht wollen Sie nun auch wissen, ob ein Stratos die Safari-Rallye 1975 gewonnen hat, und wenn, welcher: der mit Munari oder der mit Waldegård?

Um es kurz zu machen: Start in Nairobi, 5.929 km to go. Munari: Angriff! Er hatte Startnummer 3. Er würde sich so rasch wie möglich an die Spitze setzen, um nicht in irgendeiner Staubfahne zu verhungern oder zu erblinden. Startnummer 2 war kein Problem, ein Freund der Community. Also würde man bloss Startnummer 1 überrumpeln müssen, das war zwar nur ein Peugeot, aber ein Afrika-getunter 504, und der Finne, der da drin sass, hiess Timo Mäkinen.

Für diesen geplanten Überholvorgang wurde der Stratos erleichtert. Munari verzichtete auf das zweite Reserverad, und zwar jenes, für das am Heck ein Rahmen montiert war. Es gab also nur den im Bugraum liegenden Reifen.

Mäkinen, never forget, der grosse Timo Mäkinen, mit freier Sicht, fuhr etwa 140 auf der rotpulverigen Piste. Munari, mit null Sicht, fuhr 160 und flog raus, immerhin noch in halbwegs weichem Gelände mit rotem Pulver. Das Vordergestell des Wagens war derart lädiert, dass alles klemmte und man an das einzige Reserve-rad nicht rankam. Munari musste auf Waldegård warten und ihn um ein Rad bitten.

Dies war eine kurze Geschichte der Safari Rallye 1975, auch wenn noch 5.750 km zu fahren waren.

Bei Lancia tat man sich nachher ein bissl schwer zu sagen: Ups, ein Peugeot hat gewonnen (der wunderbare Ove Andersson), aber wir sind Zweite und Dritte geworden, eh toll. Und da war ja noch das Muletto. Vic Preston Jr. wurde Elfter, mit knapp zwölf Stunden Rückstand auf den Sieger.

Ausser bei Porsche und Datsun war es für die Safari-Teams üblich geworden, ihren Firmen daheim einzureden, der Rück-transport der ausgelutschten Autos lohne sich nicht. Also bekamen die Teamchefs meist Freiraum für den Verkauf an lokale Interessenten, Jahrzehnte vor Controlling und Compliance. Auch restliche Hardware fand von mancher Kiste zur anderen, so wurde die Rallye-szene in Ostafrika bis in die 1990er-Jahre am Laufen gehalten. Oder auch nicht: Als Ehrgeiz und wesentliche Kleinteile versiegten, fand sich ein echter Munari (eindeutig original) in einer Farm an der Thika Road, die Frontmulde des Stratos ergab einen würdigen Schlafplatz für einen treuen Hund.

Dem gezeigten Muletto in dieser Geschichte, Startnummer 29 in der Safari, ging es da wesentlich besser. Er überlebte vorerst noch eine afrikanische Rallyesaison mit Frank Tundo und wurde dann von -Graham Warner aufgespürt. Warner war Besitzer des höchst erfolgreichen -Chequered Flag Teams und sah nach Jahrzehnten mit britischen Racern in einem Stratos das endgültige Juwel für Renn- und Rallyesport. Da sich die Nummer 1637 als noch erstaunlich komplettes Fahrzeug herausstellte, landete es tatsächlich rasch bei Chequered Flag in England. Es wurde im typischen Schwarz-Weiss–Design des Teams tiptop in Schuss gebracht und noch in die Saison 1976 geschickt. Der Stratos wurde bis ans Ende seiner aktiven Tage (1979) nur von internationalen Spitzenleuten bewegt, in erster Linie vom irischen Star Billy Coleman. Auch Per-Inge Waldfridsson, Andy Dawson und (für einen Rallyesprint) Patrick Depailler waren auf der Besetzungsliste. Grösster Erfolg war der Sieg bei der irischen Donegal Rally 1977 mit Billy -Coleman.

Nummer 1637 wurde schliesslich von einem japanischen Sammler gekauft, der das Herz hatte, den Stratos 1991 total restaurieren zu lassen. Er gewann dafür den Besten im klassischen Lancia Business, Claudio Maglioli, kleiner Bruder des Umberto. Seither ist der Wagen ein Juwel der klassischen Rallyeszene, er glänzt wieder in den Alitalia-Farben des Safari-Tests von 1975, hat den 280-PS-Vierventil-motor und geht daher ab wie die Sau.

Der hier gezeigte Lancia Stratos mit der Chassisnummer 829ARO*001637* ist einer der 25 Werksrennwagen der Lancia Squadra Corse. Zunächst als offizieller Testwagen für die Safari-Rallye 1975 genutzt, verbrachte «1637» anschliessend knapp zwei Jahre in Kenia und wurde dort von privaten Besitzern eingesetzt. Ab Ende 1976 in England für lokale Rallyes genutzt, erwarb ihn später ein japanischer Sammler und restaurierte den Wagen komplett. Neben der ursprünglichen Alitalia-Lackierung erhielt der Stratos zusätzlich die finale Ausbaustufe des Dino-V6-Motors mit 24Ventilen und 320PS. Seit 2017 befindet sich der Wagen wieder in Europa.