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Louisa Gagliardi

Editorial  

Louisa Gagliardis Bilder, die aus einfachen Zeichnungen, digitalen Remixen, Photoshop und aufgetragenen Glossen hervorgehen, verschaffen sich durch ihre Aktualität Gehör. Durch die Erforschung des Materials drückt die Künstlerin ein In-der-Welt-Sein aus, das sich mit der heu-tigen Integration von Virtualität und Körperlichkeit zusammenschliesst. Dieses merkwürdige digitale Filtersystem, bei dem Menschen zu Aggregaten von technologischen Schnittstellen werden, bildet das Umfeld, in dem Gagliardi ihre Bilder komponiert. Diese Werke verschlüsseln meisterhaft die Zeit und den Ort der Produktion der Künstlerin.

Gagliardis Darstellungsweise verwandelt die Unmittelbarkeit eines Pinsels auf der Leinwand auf die inhärente Distanz zwischen Benutzer und Netzwerken abseits des Bildschirms. Eine Maus wird zum treibenden Element der Formen – unter ihrer Leitung wird die alte Technik durch eine neue ersetzt. Sie schichtet digitale Verfahren zwischen die herkömmlichen, wobei sie jedes Bild mit einer Gruppierung von Skizzen einleitet und das digital gerenderte «Fleisch» übermalt mit Gelen, Acrylfarben und Nagellack. Ihre Endbearbeitungstechniken verleihen den Bildern einen Glanz, der auf den Betrachter zurückstrahlt. Dieser glänzende Überzug betont auch die Wahrnehmung, man bewege sich durch ein Gemälde, da die Gel-Oberflächen nur aus bestimmten Winkeln Licht einfangen. Dieses Verfahren unterstreicht auch die -Materialität, die diese Werke noch deutlicher als Kunstwerke erscheinen lässt. Gagliardi setzt sich mit überlieferten Texturmerkmalen auseinander, wobei ihre Lacke die traditionellen Öle und Tempera ersetzen.

Diese «Endzeit-Online-Kultur» und deren sich ständig erweiternde Bedingungen bilden für Gagliardi eine Grundlage, auf die sie eingehen kann. Ihre visuelle Welt ist daher stets untrennbar mit den digitalen Technologien verbunden. In ihrem imposanten Werk bezieht sich Gagliardi auf eine Reihe historischer Präzedenzfälle, indem sie Elemente des italienischen Futurismus entlehnt und sich einen surrealistischen Appetit auf die Traumwelt bewahrt. Stränge der industriellen Formensprache von Ivo Pannaggi werden zwischen den kargen Grenzen von Kay Sage und den opaken Erzählungen von Remedios Varo verwoben. Gagliardi bringt das heutige Überwachungsund Spektakelzeitalter auf den Punkt und nickt gleichzeitig dem Idealismus der Renaissance zu. Sie verweist auf die unmög-lichen Körperhaltungen und Proportionen von Sandro Botticellis Motiven; ihre bevölkerteren, «lesbaren» Szenen rufen Erinnerungen an die von Giotto hervor.

Auch eine Vielzahl von skulpturalen Objekten ist in -Gagliardis Gedankenwelt entstanden. Ihre Neigung zur Illusion manifestiert sich in seltsamen Gegenständen, indem die Künstlerin ihre Signatur auf die Oberflächen von Polyester-Liegen und bearbeitetem Aluminium einprägt. In Permission (2021) begegnet der Betrachter einer Flat Stanley-ähnlichen Figur, die hinter einem an die Wand geketteten Hund sitzt. Ketten und Kerzen verzieren die Szene mit nebulöser Wirkung. Genau wie ihre gemalten Figuren, streben auch diese Objekte nach Autonomie. Die Situation, um die es hier geht, wird so zu einer, in der der Bruch zwischen den Dimensionen eine fundamentale Frage der Präsenz aufwirft.

In ihrer monumentalen Präsentation für die Art Basel Unlimited 2022 inszeniert Gagliardi eine relativ entvölkerte Szene. Es gibt zwei vollständig klare Figuren, während die übrigen nur Andeutungen sind, die entweder aus Silberchroma bestehen oder sich als Fragmente in verstreuten Glaswaren materialisieren. Im Werk der Künstlerin manifestieren sich exorbitante Impulse in Form von opulenten Gedecken und hochhackigen Schuhen. Dies ist allerdings die Entleerung nach der Party. Salz wurde verschüttet und die Kirschen sind verstreut. Tête-à-tête zeigt die kalte Ästhetik des digitalen Renderings, stützt aber letztendlich Gagliardis Faible für Theatralik. Ihre Erzählungen werden durch schwebende Signifikanten, die in das Terrain der Wahrnehmung geworfen werden, kultiviert. Isabelle Graw unterstützt dieses Gefühl und schreibt, dass «die Zeichen der Malerei als Spuren des produzierenden Menschen gelesen werden können» und sich der Bewertung des Betrachters unterziehen.

Under the Breath (2021) ähnelt stark Tête-à-tête, allerdings in einer beunruhigenden grünen Farbpalette. Ein nebliger runder Tisch mit grünen Figuren ist hier in ominösen Nebel gehüllt,  und die sitzende Personen scheinen im milchigen Dunst zu ertrinken. Tauben verschönern die Szene und sind Zeugen der seltsamen Versammlung, die sich um den zentralen Tisch herum abspielt. Ein verhängnisvoller Handwechsel, wobei die Nagelhaut und die Fingerknöchel besonders hervorstechen. Gagliardi mischt sich regelmässig in den Akt der Gestik ein, wobei ihr -Interesse der Semiotik der Hände gilt. Der Glanz und die Eigenart der Nagelbetten von Palm Reader (2019) und der definierten Handfalten von Blood Moon (2020) stellen Gagliardis Faszination für die Ausdrucksmöglichkeiten des Subjekts dar.

Diese Figuren entsprechen selten erkennbaren Individuen, stattdessen fungieren sie als Avatare, die für die Vermittlung durch den Betrachter empfänglich sind. Pierre Klossowski zeichnet diese Situation pflichtbewusst nach, indem er schreibt, dass «die Obsessionen des Künstlers nie mit der Freude oder der Angst des Betrachters übereinstimmen». Sie sind Projektionsflächen, auf denen das Abgleiten zwischen realen und imaginären Begegnungen ein Wahrnehmungs-Chaos hervorrufen. In Refill (2020) entlassen die Augen eines Schattenprotagonisten züngelnde Tränen in zwei Martini-
Gläser. Auch Aphrodisiac (2020) zeigt eine verlassene Frau, die von einem künstlichen Licht beleuchtet wird, ähnlich dem, das ein Computerbildschirm aussendet. Ihr tränenloses Gesicht wird von einem Stielglas mit durchscheinender Flüssigkeit und einer versunkenen Kirsche verdeckt. Ähnlich verfremdete Figuren tauchen in ihren Bildwelten immer wieder auf, wenn sie sich mit den Konturen der Melancholie beschäftigt. Mit dem Kopf in den Händen müht sich die Figur in Reflecting (2021) in dieser düsteren Dimension ab, ihr undurchschaubarer Ausdruck ist in ein Tisch-Teich-Kompositum gefasst.

In den letzten Jahren betrachtete sie ihre Körper als Landschaften und zoomte weg von ihren ehemals zugeschnittenen Motiven. Ihre Sujets verstricken sich immer mehr in eine anomale Umgebung, wobei ihre Subjektivität immer stärker schwindet. Luncheon on the Grass (2022) ist auf den ersten Blick eine entstellte Vision von Kühen auf der Weide. Die Tiere sind von einem wirbelnden Rasen umgeben, ähnlich wie in den jüngsten Landschaften von Alex Katz. Die Andeutung von Beschaffenheit im Originaldruck wird durch Gagliardis Auftrag des Gelmediums aufgegriffen, wodurch ein besonderes Tiefengefühl entsteht und unterstreicht die Dynamik ihrer Motive. Bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass menschliche Formen die Kuhflecken definieren. In Daily Jam (2019) wird alternativ ein Szenario vorgeschlagen, in dem ein Geleeklumpen mit Beinen, Armen und einem rudimentären Gesicht auf einer perfekten Scheibe Weissbrot ruht.

Nach Gagliardi sind diese Szenen als «Mittelpunkte» zu verstehen, als Schnittstellen zwischen den Höhepunkten. Ob Momente des Übergangs oder der Ruhe, die Zwischen-
spiele der Künstlerin lösen ihre eigenen Provokationen aus. Das Verhandeln mit der Ambivalenz entzieht sich der Melodramatik und bringt ein Gefühl von Dauerhaftigkeit hervor. Derweil greift das Wechselspiel von Licht und Dunkelheit in diesen Bildern auf den barocken Formalismus zurück und erzeugt Chiaroscuro-Wellen durch ihre Oberfläche. Genau das ist es, was das Werk der Künstlerin antreibt. Gagliardi fordert den Betrachter bis an den Rand der Beunruhigung heraus und bietet gleichzeitig Schnipsel von Erotik und Glamour. Gekonnt kultiviert sie eine Spannung zwischen Abstossung und Begierde. Die Dynamik dieses Effekts und die spezifischen formalen Modalitäten zwingen das Publikum, sich wirklich mit dem Werk zu beschäftigen, seine Schemata zu verfolgen und die Surrealität zu erfassen. Selbst der freche Hintern in Breakfast in Bed (2019) projiziert durch seinen blassen fast lavendelfarbenen Hautton Fremdheit. Auf jeder Backe befinden sich eine Schüssel und ein Löffel, die von jeweils einem Auge unterbrochen werden: Orange auf der linken Seite, Grün auf der rechten. Die Sprache hier entspricht Dalís anatomischen Abweichungen, der Körper entfremdet vom Realismus.

In dem Aufsatz «The Knowledge of Painting: Notes on Thinking and Subject Like Pictures» geht Graw pflichtbewusst die Problematik der zahllosen Definitionen von Malerei im Laufe der Zeit an. An einer Stelle schlägt sie vor, dass «Malerei nie rein war», sondern dass sie vielmehr verstanden werden sollte als «etwas Bestimmtes, das dennoch einer drastischen Entspezifizierung unterzogen wurde». Letztere Perspektive wird dargestellt, nachdem Graw vorschlägt, dass «wir die Malerei nicht als ein Medium betrachten, sondern als eine Art der Zeichenproduktion, die als hochgradig personalisiert erlebt wird». In diesem Rahmen kann man versuchen die materiellen Fragen zu verstehen, die in Gagliardis pluralisiertem Universum geschildert sind.

Gagliardi setzt ihre Fähigkeiten in Illustration und Photoshop ein, um die Grenzen ihres Mediums auszureizen. Durch die Übersetzung vom digitalen zum gedruckten Bild geht das Objekt in einen Zustand der «Lebendigkeit» über, da seine Taktilität eine greifbare Präsenz erzeugt. PVC-Oberflächen werden zu Gefässen für technologische Neuordnung, gefolgt vom Einsatz begrenzter Pinselstriche auf den ebenen Flächen. Sie produziert diese ungeordneten imaginären Stellen, indem sie sich mit der technologischen Post-Medium-Bedingung auseinandersetzt und dabei zutiefst menschliche Belange erforscht. Reflexivität und Fantasie sickern ins synthetische Universum der Künstlerin. In Anlehnung an Graw vertritt Gagliardi die Auffassung, dass «Malerei eine Form der Zeichenproduktion ist, die als eine hochgradig personalisierte semiotische Aktivität erahren werden kann». Gagliardis Selbstbewusstsein und Verständnis für ihren Beitrag innerhalb dieses Rahmens ermöglichen eine hybridisierte Produktionsweise, die historische Anknüpfungspunkte mit den Bedingungen der Gegenwart verbindet. Während die Zukunft in einem exponentiellen Wettlauf über sich selbst zu stolpern scheint, macht sich Gagliardi daran, diesen besonderen Moment zu konkretisieren.

Übersetzt aus dem englischen Original.